Meinung

Braucht Russland einen neuen Abrüstungsvertrag für Europa? Ja, aber erst muss der Westen reif sein

Russland ist grundsätzlich bereit, mit Ländern des Westens bilaterale Gespräche über einen Nachfolger des INF-Vertrags zu führen, den die USA im Jahr 2019 ausgesetzt hatten. Dies gab Sergei Lawrow Anfang 2023 bekannt. Doch braucht Russland einen solchen Vertrag überhaupt?
Braucht Russland einen neuen Abrüstungsvertrag für Europa? Ja, aber erst muss der Westen reif seinQuelle: Sputnik

Von Dmitri Winnik

Mitte Februar erklärte Außenminister Sergei Lawrow Moskaus Bereitschaft, mit den westlichen Ländern bilaterale Beratung über Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen (INF) zu führen, sprich: tatsächlich den Verhandlungsprozess zum Abschluss eines neuen INF-Vertrags zu beginnen. Der vorige Vertrag von 1987 war im Jahr 2019 von den USA ausgesetzt worden; Russland hatte dies bald darauf ebenfalls getan.

Am 10. Mai 2023 fand im Moskauer Haus des Buches ein Treffen mit dem ehemaligen Aufklärungsoffizier der US-Marineinfanterie Scott Ritter statt: Er stellte im Rahmen seiner Russland-Tournee sein Buch "The Disarmament Race" (Dt. etwa: "Das Wett-Abrüsten") vor – darin geht es genau um diesen Vertrag, an dessen Entwicklung und Überwachung Ritter als junger Offizier beteiligt gewesen war. Er war einer der Männer, die Wladimir Putin erwähnte, als er über den Kontrollposten des US-Geheimdienstes in der Maschinenbaufabrik Wotkinsk in Udmurtien sprach. Ritter hatte mehrere Jahre lang in Wotkinsk gearbeitet und dort sogar eine russische Frau gefunden – wie er es ausdrückte, hatte sie "für die Gegenseite" gearbeitet, da sie Übersetzerin gewesen war.

Es ergab sich so, dass ich meine erste Dissertation gerade über den unseligen Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme schreiben musste. Da mir Zugang zu den Unterlagen gewährt wurde, konnte ich mir ein recht gutes Bild von diesem und anderen Verträgen machen – vor allem aber von den Kontrollmaßnahmen über die Erfüllung dieser Verträge. Letzteres war besonders interessant und schockierend: So erfuhr ich zum Beispiel, dass Washington 60 Millionen US-Dollar für "physische Schutzmaßnahmen" für Russlands Nuklearanlagen bereitstellte. Das bedeutete, dass die Sicherheitssysteme der russischen Anlagen für die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen unter US-Kontrolle standen. All dies wurde mit dem Gerede über "böse Jungs" aus Drittländern gerechtfertigt, die Bomben oder gefährliches Material aus Russland stehlen wollten, und mit Russlands damaliger armutsbedingter Unfähigkeit, allein damit fertig zu werden.

Zurück zum Vertrag. Erstens erstaunte die Asymmetrie des INF-Vertrags – die Sowjetunion hatte viel mehr Raketen zerstört: 1.846 Stück gegen nur 846 US-Raketen. Zweitens hatten wir ganze sechs Raketentypen gegenüber lediglich drei US-amerikanischen zerstört. Außerdem waren die Oka-Raketen (SS-23 im NATO-Sprachgebrauch) nicht unter den Vertrag gefallen, aber Michail Gorbatschow hatte beschlossen, Washington ein Geschenk zu machen und sie in den Vertrag aufzunehmen. Es war klar, dass Moskau mehr an dem Vertrag interessiert war als Washington. Tatsächlich hatten die dank mobilen Startrampen bodengestützten Tomahawk-Marschflugkörper (GLCM; BGM-109G Gryphon) und die ballistischen Raketen Typ Pershing von Europa aus jedes Gebiet im europäischen Russland erreichen können, während die sowjetischen Pionier und andere Mittelstreckenraketen für die USA selbst überhaupt keine Bedrohung dargestellt hatten. Für Washington hatte sich das Interesse an dem Vertrag praktisch auf den Schutz seiner Truppen im europäischen Gefechtstheater und seiner europäischen Verbündeten beschränkt. Dieses Interesse war für sie nicht, wie man heute gern sagt, von existenzieller Bedeutung gewesen – für uns war es das aber sehr wohl gewesen.

Ich habe Ritter gefragt, ob er dieser Ansicht zustimmt. Er antwortete, die US-Seite habe überhaupt nicht mit einer Überraschung in Form der SS-23 gerechnet! Das war ein echtes Geschenk – der Vertrag hatte die kühnsten Erwartungen der US-Amerikaner übertroffen. Ritter erinnerte sich auch, dass sich unter der US-Delegation (30 Personen) sehr viele junge Offiziere befunden hatten, obwohl es Washington an erfahrenem Personal nicht gemangelt hatte. Dies bedeutete nur eines – die US-Seite hatte nicht an den Erfolg der Mission geglaubt und sie von vornherein als Misserfolg angesehen. Die Mission wurde jedoch in nur drei Jahren erfolgreich abgeschlossen. Jetzt wissen wir, warum – weil es dazu einen starken politischen Willen auf unserer Seite gegeben hatte: Gorbatschow und sein Team hatten sich förmlich überschlagen, um dem Westen einen Gefallen zu tun.

Nach Ansicht des Gastes war die Rolle des INF-Vertrags enorm: Er hatte die Welt buchstäblich vor einem globalen thermonuklearen Krieg zwischen der UdSSR und den Vereinigten Staaten bewahrt, an dessen Rand wir in den 1980er-Jahren gestanden hatten. Zum Beispiel hätte er im Jahr 1982 beinahe begonnen. Und es stimmte: Ich erinnere mich gut daran, wie mein Vater vom Dienst zurückgekehrt war und mir erzählt hatte, wie der Reservegefechtsstand der Luftverteidigungseinheit, in der er gedient hatte, sich auf die Abwehr eines Angriffs strategischer US-Bomber vorbereitet hatte, die über den Nordpol auf uns zugerast waren. Dann hatten die Flugzeuge den sogenannten Point of no Return erreicht, ein Gebiet, nach dessen Überqueren sie nicht mehr zurückkehren konnten, ohne ihre Marschflugkörper abzufeuern. Die sowjetische Luftabwehr hatte um diese Linie gewusst – sie hatte nur nicht genau gewusst, wie breit sie war. Damals war es förmlich um Minuten gegangen. Viele waren sich sicher gewesen: "Jetzt geht es los!" Und so hatte die Regierung Ronald Reagan mehrmals mit uns ihr Nervenspiel gespielt.

Erst später, so kommentierte dies Ritter, hatte Reagan begonnen, sich nachbarschaftlich zu verhalten. Der ehemalige US-Aufklärungsoffizier fügte hinzu, dass wir heute sicherlich in einer anderen, sichereren Welt leben würden, wenn George W. Bush nicht beschlossen hätte, die geschwächte UdSSR zu erwürgen.

Ritter bedauert eindeutig, dass die USA unter Abwälzen ihrer eigenen Schuld auf Russland aus dem Vertrag ausgestiegen sind: "Nicht Russland hat die Mittelstreckenrakete getestet, sondern die USA, also sind gerade die USA dafür verantwortlich."

Seiner Ansicht nach verhält sich Russland heute in strategischer Hinsicht klug, wir haben "eine starke, gut legitimierte Position; die UdSSR wollte von Anfang an Frankreich und Großbritannien (die auch Raketen in Europa haben) in den INF-Vertrag einbeziehen – doch Washington weigerte sich in den 1980er-Jahren, einen Rahmenvertrag abzuschließen, und Moskau bestand nicht darauf. Jetzt ist Russland bei der Diskussion über den neuen Vertrag zu dieser Position zurückgekehrt – und das ist vollkommen gerechtfertigt."

Der Veteran des Kalten Krieges sagte auch, dass die USA in der gegenwärtigen Lage hart daran arbeiten müssen, das Vertrauen Russlands zurückzugewinnen, damit ein neuer Vertrag überhaupt möglich wird. Wie könnten die Bedingungen dieses Vertrags aussehen? Zum Beispiel könnte man die Anzahl der Atomsprengköpfe im europäischen Raum auf 100 auf jeder Seite begrenzen: Einerseits Russland und andererseits alle NATO-Länder.

Ritter ist bekannt für seine kritische Sicht der aktuellen US-Politik, auch in Bezug auf die Ukraine-Frage:

"Alles steuert auf eine militärische Niederlage der Ukraine gegen Russland zu. Wir sind keine Freunde der Ukraine, wir mögen sie nicht. Bei denen sterben Hunderttausende, zehn Millionen verlassen das Land – und wir ließen es geschehen. Welcher Freund würde so etwas zulassen? Der Schaden hat bereits eine Trillion US-Dollar erreicht. Die Ukraine wird verlieren – und wenn sie verliert, werden wir sie zurücklassen, so wie wir Afghanistan zurückgelassen haben, denn sie sind nicht unsere Freunde."

Gleichzeitig betrachtet Ritter Russlands Operation in der Ukraine nicht als einen vollwertigen Krieg, da die Ziele und Ergebnisse der Operation nicht allein mit militärischen Begriffen definiert werden können: "Wie man einen Sieg definieren kann? Diese Frage kann nur von der russischen Regierung beantwortet werden", stellte er zu Recht fest.

Putin muss man ja nicht gleich lieben, erklärte Ritter weiter, aber er muss respektiert werden: Zunächst hatten die USA gedacht, dass Putin den Kurs von Boris Jelzin fortsetzen werde, einem schwachen Anführer, der den USA perfekt gepasst hatte – nur habe Putin Washington die Suppe gehörig versalzen, als er beschloss, sein Land zu retten. Und gerettet habe er es, und so werde Putin seinen rechtmäßigen Platz in der Geschichte einnehmen.

Ich fragte den Veteranen der großen Entspannungsära, ob es sich um des Friedens auf der Erde willen lohne, die Abrüstung im Bereich der Mittel- und Kurzstreckenraketen wiederzubeleben, oder ob es wichtigere Bereiche gebe, da die Raketenrüstung selbst Fortschritte gemacht habe. Er hält eine Wiederbelebung für durchaus sinnvoll, da ballistische Raketen zu noch gefährlicheren Waffen geworden seien – ihre Genauigkeit, Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit haben ja zugenommen. Das bedeutet, dass die Relevanz eines Abbaus der Arsenale ballistischer Raketen nicht nur weiterbesteht, sondern sondern sogar gewachsen ist. In der Tat können wir sehen, wie effektiv die russischen Kurzstreckenwaffen sich gezeigt haben: Iskander-Lenkflugkörper beider Typen, der quasi-ballistische luftbasierte Lenkflugkörper Kinschal oder die ganze Reihe land-, see- und luftgestützter Marschflugkörper – die Kalibr, Onyx, Burja, Ch-101 und so weiter.

Alles zu seiner Zeit

Ja, sicher brauchen wir einen neuen Vertrag, aber wir brauchen ihn nicht heute. Erstens benötigt Russland all diese Waffen in ihrer nichtnuklearen Sprengkopfbestückung, um den aktuellen Konflikt in der Ukraine zu gewinnen. Dies ist unser wichtigster Trumpf. Zweitens müssen die NATO-Atommächte erst zum richtigen moralischen und politischen Zustand geführt werden, um für Verhandlungen über ein faires Abkommen bereit zu sein – sprich, einen Zustand, in dem sie ihre Arroganz, ihre Hybris und ihren Hang zur Täuschung ablegen. Die Zeit arbeitet für Russland – und dieser richtige Sollzustand ist sicherlich nicht mehr weit entfernt.

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Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.

Dmitri Winnik ist ein russischer Publizist, Journalist, Radiomoderator und Doktor der Philosophie, spezialisiert auf Ontologie, Epistemologie und Bewusstseinsphilosophie. Professor im Fachbereich Geisteswissenschaften an der Finanzuniversität bei der Regierung der Russischen Föderation.

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